Kontingenz, Ironie, Konstruktion

 

Festvortrag anlässlich des Symposiums zum 80. Geburtstags von Helge Peters an der Universität Oldenburg 15.12.2017

Es ist mir Ehre, Freude und Verpflichtung, hier heute zu stehen und angeregt durch meine Auseinandersetzung mit den Schriften und Ideen von Helge Peters ein paar allgemeine Überlegungen zum Besten zu geben.[1] Ich tue dies über einen Umweg und beginne in den USA, genauer gesagt mit einigen Debatten die in der Ära vor Steve Bannon und Donald Trump dort stattfanden. Von dort versuche ich dann mich zu Fragen der Kriminalsoziologie und Devianzforschung vorzuarbeiten.

 Für diejenigen, die sich mit den neueren Entwicklungen des amerikanischen Pragmatismus beschäftigt haben, dürfte die Anspielung in der Überschrift meines Vortrags schnell erkennbar sein. Ich variiere hier den Titel eines Buchs des vor einigen Jahren 2007 im Alter von 78 Jahren verstorbenen amerikanischen Philosophen Richard Rorty, Kontingenz, Ironie, Solidarität. Dort vertritt er die These, dass es nicht gelingen kann, den Anspruch auf öffentlich gültige Wahrheit mit dem Streben nach einem authentischen Leben, nach privater Selbstverwirklichung zu verbinden. Beides aber sei legitim und müsse in Balance gehalten werden. Was dies für die menschlichen Unternehmungen von Wissenschaft, Forschung, Theorie, Politik usw. bedeutet, buchstabiert er dann aus und landet dann bei einer Figur, die er als liberale Ironikerin bezeichnet. Diese Figur lebt mit der letztendlichen Unvereinbarkeit dieser beiden für sich genommen legitimen Bestrebungen und die letztendliche Maxime für die Begründung ihres Handelns ist die Vermeidung von Grausamkeit. Ich will hier keine Tugendlehre ausbreiten, sondern eher versuchen, die Konsequenzen von Rortys Gedanken für die Sozialwissenschaft speziell die Beschäftigung mit Devianz und Kriminalität zu ziehen.

Einer breiteren akademischen Leserschaft wurde Rorty bekannt als einer der Wortführer des sog. linguistic turn mit dem eine Reihe ehrwürdiger Fragen der philosophischen Diskussion dem Misthaufen der Geschichte überantwortet werden sollten. Seine dazugehörige Argumentation hat Rorty in einem seiner Hauptwerke entfaltet The MIrror of Nature– in deutscher Übersetzung als Der Spiegel der Naturbei Suhrkamp veröffentlicht. Von diesem wirklich dicken Buch ist mir ein Gedanke in Erinnerung geblieben, der in ähnlicher Form – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – schon bei Marx zu finden ist. Marx meinte ja bekanntlich, dass die Menschheit sich immer nur jene Probleme stellt, die sie auch lösen könne, dass also die Aufgaben, mit denen sich die Menschheit beschäftigt variabel sind und mit der Entwicklung der Produktionsverhältnisse immer neue Formen annehmen.  

Rorty dreht das ein bisschen anders und meint, die großen Probleme der Philosophie, also die Fragen vom Typ: Gibt es einen Gott, wie viele Engel passen auf die Spitze einer Stecknadel, sind wir duale Wesen aus Geist und Materie, blind gesteuert von Biologie oder zu autonomer Entscheidung fähig   – oder: Sie gestatten mir einen ironic turnin die Gegenwart: Gibt es historische Invarianzen der Thematisierung von Devianz – solche Probleme, Rätsel oder Fragen, so Rorty, werden nie beantwortet oder gelöst. Sie sind unbeantwortbar und verschwinden daher einfach, weil sie irgendwann langweilig werden und die Menschheit sich anderen Themen zuwendet. 

Nichtsdestotrotz, wie die Geschichte zeigt, haben dergleichen Fragen Kriege ausgelöst, Menschen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt und – man glaubt es kaum – vom akademischen Lehrbetrieb ausgeschlossen.

Alles was im Gestus des Allgemeinen und Universellen daherkommt, Sätze, die anfangen mit „Es gibt oder es gilt immer und überall ...“ verfallen bei Rorty dem Verdikt eines blutleeren metaphysischen Idealismus und werden unter Autoritarismusverdacht gestellt.

Wie bei Ockham könnte man hier von Rortys Razor, sprechen. Und der lässt sich in einer bekannten Frage formulieren, die Friedrich Nietzsche an zentraler Stelle aufwirft: Wer spricht? Steht da einer oder eine, die vom Feldherrenhügel des Philosophenkönigtums die Welt als Ganze in den Blick nimmt, maßt sich einer die Perspektive des göttlichen Blicks an, wie wir den Kindern im Religionsunterricht beibringen: der Liebe Gott sieht alles, hört alles, riecht alles und weiß alles?  Kann man legitimerweise mit universellen Ansprüchen über die Welt sprechen? Und mit welchem Recht?

Gelten Sätze wie 2 + 2 = 4 immer und überall? Gerade an diesem Beispiel aus der Mathematik hat ja schon Wittgenstein gezeigt, dass die Aussage 2 + 2 = 3 im Rahmen der Mengenlehre durchaus richtig sein kann. 

Richard Rorty räumt vergnüglich auf. Er überführt die Meisterdenker in einer wie ich finde sehr liebenswerten und nie bösartigen Weise, bringt sie zurück auf den Boden der Fragen, die für das Leben wichtig sind. Letztendlich so schreibt er irgendwo, sollte es nicht um Probleme der globalen Wahrheit und Gerechtigkeit gehen – beides ist wichtig, aber die damit aufgeworfenen Fragen lassen sich vor Ort nicht beantworten. Vielmehr sollten wir „uns“ zum Beispiel im Fall von Gerechtigkeit fragen, was es heißt, in einer reichen westlichen Demokratie zu leben. Von da ausgehend würden wir dann schon auf die wichtigen moralischen Fragen stoßen, die uns zu praktischen Handlungen nötigen. Wenn einer von „Wir“ spricht, ist natürlich immer Vorsicht angebracht, aber Rorty meint damit schlichtweg die aufgeklärten Bürger vor Ort, die, mit denen wir tagtäglich verkehren und uns auseinandersetzen.

Autoren, die mit ebenso respektlosem wie intellektuell geschärftem Alltagsverständnis an die großen und ernsten Fragen der Philosophie herangehen, finden sich in der akademischen Tradition Europas nur selten. Hierzulande bläst sich die zeitdiagnostische Philosophie eher auf als dass sie die Luft aus den überdehnten Begrifflichkeiten herauslässt. Nicht umsonst trägt einer der pop-philosophischen Bestseller aus deutscher Produktion den Titel Blasen

Folgt man Autoren wie Rorty, sollte man nicht nur die Antworten, sondern schon die Fragen, die sie auslösen, kritisch in den Blick nehmen. Wen interessiert das? Was bringt das? Oder einfach: Was soll der Mist?  

In einem kleinen Aufsatz mit dem schönen Titel „Vom Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“ argumentiert Rorty, dass man auch in Fragen der gesellschaftlichen Ordnung eher auf Prinzipien der demokratischen Mehrheitsbildung als auf die im Elfenbeinturm geschärfte Logik der Philosophen setzen sollte. Die Vorschriften vom tugendhaften und politisch korrekten Leben und Handeln, die uns aus der Produktion der politischen Philosophen serviert werden, taugen nicht viel.  Man sollte, so sein Rat an die professionellen Gesellschaftsdeuter, die wichtigen Fragen aus der Perspektive derjenigen behandeln, die es betrifft. Oder wie Hannah Arendt es einmal formulierte: Zwar ist derLöwe legitimer Gegenstand der Zoologie, d.h. die Zoologen können das Tier als Exemplar einer Gattung beschreiben, messen und wiegen. Aber DieLöwen sind etwas was nur die Löwen angeht. Der Teufel sitzt hier natürlich im Begriff der demokratischen Mehrheitsbildung. Damit ist sicherlich nicht der derzeit beliebte Populismus gemeint, der mit dem Kampfruf „Wir sind das Volk“ operiert, mit dem ein gleichsam metaphysischen Kollektivsubjekt hervorgebracht werden soll. 

Diese Gefahr des Abkippens in einen grimmigen Volkszorn ist bei kommunitaristischen Ansätzen immer vorhanden. Aber Rortys neo-pragmatistischer Kommunitarismus setzt sich wohltuend von Autoren wie Amitai Etzioni oder Michael Walzer ab, die entweder für eine Wiederbelebung moralisch gefärbter tribaler Gemeinsamkeit votieren oder sich gar wie Walzer für die Idee eines gerechten Kriegs einsetzen und dann die amerikanische Intervention im Kosovo mit höheren Weihen versehen. Von da ist es nicht mehr weit zu Sprüchen wie „America first!“

Rorty hält dagegen eine konsequent ambivalente Haltung hoch, balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Beliebigkeit und Verpflichtung, anerkennt die Kontingenz der Welt, fordert ironische Selbstdistanz zu eigenen Überzeugungen und wirbt für Solidarität als praktische Haltung und Handlungsmaxime. 

Solche Überlegungen provozieren dann die üblichen Gegenargumente Es werden die schweren Geschütze des unhaltbaren, am Ende gar postmodernen Relativismus in Stellung gebracht, um gegen solche Rede zu Felde zu ziehen. 

Muss man nicht entscheiden können, ob ein Tisch ein Tisch, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, ob ein Experiment sich reproduzieren, eine Hypothese sich verifizieren oder ein Argument absichern und begründen lässt? Muss man nicht dem Klügeren folgen, der weiß wo’s langgeht?

Ausgehend von dieser Schlachtordnung könnte man nun längst geschlagene Scharmützel nochmal nachstellen, Auseinandersetzungen, die in den Sozialwissenschaften viel Aufregung hervorgerufen haben. Ich gehe nicht weiter darauf ein. Interessant wird es aber, wenn man Überlegungen, wie sie Rorty in Kontingenz, Ironie und Solidarität entwickelt auf die diversen Spielarten des Konstruktivismus anwendet. Autoren wie Ian Hacking, Niklas Luhmann, Heinz von Foerster, die jeweils unterschiedliche und unterschiedlich radikale Spielarten des Konstruktivismus vertreten, waren sich der grundlegenden Problematik des Beobachterstandpunkts bewusst und haben sich dazu geäußert. Sie alle haben den Beobachter in das Bild wieder hereingeholt. Dieser war mit viel Mühe von den verschiedenen Varianten objektivistischer Epistemologien ausgetrieben worden. Oder wie es im akademischen Volksmund heißt: You can’t have opinions about truth!“ 

Am elegantesten hat das Problem wie ich finde Luhmann einmal formuliert, der über das soziologische Projekt sagte: Die Soziologie muss darauf vorbereitet sein, sich selbst beim Gang durch die Gesellschaft zu begegnen. Er hat für die Beschreibung dieses Phänomens das systemtheoretische Kunstwort des Re-Entry vorgeschlagen. Wir steigen aus und dann wieder ein oder wechseln zwischen der Rolle des Beobachters erster, zweiter und n-ter Ordnung.  Auch die von Jürgen Habermas popularisierte Unterscheidung zwischen System und Lebenwelt, zwischen der Rolle des Beobachters, der Handlungsfolgen betrachtet und der des Teilnehmers, der fallible Gründe für sein praktisches Handeln in der Interaktion mit anderen vorbringt, nimmt diese Problematik auf. 

Es ist dies ein vertracktes Problem, das man ignorieren kann, um den Gang der Forschung nicht zu stören. Wenn man es aufbringt, löst man oft eine Art akademischen Kniereflex aus. Als ich vor einiger Zeit hier ums Eck in Delmenhorst im Hanse Wissenschafts-Kolleg (HWK) zweimal ein sehr anregendes Jahr verbracht habe, gab es immer wieder Diskussionen mit dem damaligen Direktor Gerhard Roth. Es ging dabei, wie Sie sich denken können um die Differenz zwischen einer sozialwissenschaftlichen und einer neurowissenschaftlichen Herangehensweise an das Gehirn. Die Neurowissenschaften unterscheiden bekanntlich zwischen der unmittelbaren Evidenz der Wahrnehmung, also bspw. dem Schmerz, den ein Mensch empfindet und der Beobachtung eines neuro-biologischen Systems, wie es die populären Hirnscans mit ihren bunten Bildern zeigen. Diese Differenz lässt sich den Perspektiven der ersten und dritten Person zuordnen, ichempfinde und er, sie, esbeobachtet. Mein Einwand war dann immer, wo denn die Perspektive der zweiten Person bleibt. Gibt es keine methodische Haltung, die zwischen dem isolierten Subjekt und dem detachierten Beobachter vermittelt? Lässt sich auf der Basis des Duder zweiten Person eine Art interaktionistische Theorie des menschlichen Gehirns entwickeln. Wir sind an dieser Stelle damals nicht weitergekommen und noch heute liegen einige unausgearbeitete Papiere herum, die ich mit etwas Glück nochmal gegen einen ERC Grant eintausche um an diesem Problem weiterzuarbeiten. 

Was hat das nun alles mit abweichendem Verhalten, Kriminalität und Devianz, mit kritischer und traditioneller Kriminologie und mit Helge Peters zu tun?  

Der konstruktivistische Turn in der Form des sogenannten Labeling Approach(LA) war für die deutsche Kriminologie stilbildend. Die Frage: wie hältst Du es mit der Figur des Kriminellen schuf seit den 1960igern über Jahrzehnte hinweg die Einheit in der Differenz in der wissenschaftlichen Diskussion der kriminologischen Scientific Community. Ein Bekenntnis zum LA war das Aufnahmeritual in die Gemeinschaft der kritischen KriminologInnen. Was immer einer tut, es wird zum kriminellen Handeln erst durch die Definition der Beobachter, dem Tun selbst wohnt immanent keine Bedeutung inne. 

Eine der für mich prägnantesten Formulierungen dieses Mantras stammt von Helge Peters, den ich vor vielen Jahren als junger Aspirant auf Mitgliedschaft im Arbeitskreis der damals wirklich noch jungen Kriminologen bei einer Tagung hörte. Es sei, so Peters, ein Unterschied, ob die Frau eines Generaldirektors im Kaufhaus beim Entwenden eines Lippenstifts erwischt werde oder die Kassiererin aus dem Supermarkt. Der einen sähe man das nach – sie habe das Zahlen vergessen oder leide unter Kleptomanie – die andere aber würde wg. Diebstahls vor den Kadi gezerrt und vollumfänglich kriminalisiert. Man sieht also, dass der gleiche physische Akt, die Aneignung eines Lippenstifts unter Umgehung des Cash-Nexus, ganz unterschiedlich gedeutet und interpretiert werden kann. Im einen Fall ist es ein krimineller Akt, im anderen Fall nicht. Es kommt auf den Beobachter an. – An diesem Beispiel kann man übrigens unschwer erkennen, dass diese Diskussion vor dem feministischen Turn und dem Zeitalter des online-Handels stattfand. Heutige Szenarien zur Erklärung des LA würden wahrscheinlich anders aussehen.

Eigenschaften von Handlungen und Personen als Beobachterkategorien zu definieren, das war der analytische Witz des LA. Was immer einer tut, erst wenn ein Dritter dazu etwas sagt, wird für die Soziologie bzw. die kritische Kriminologie ein sinnhafter Handlungsvollzug daraus. Was immer in den Köpfen der Akteure vorgeht, im inneren Monolog, erst die Verifizierung durch Dritte gibt dem Ganzen Sinn. Und es kommt zudem darauf wer diese Dritten sind. 

Erst wenn der Richter sagt: Ich erkläre Sie für schuldig wird aus dem Angeklagten ein Verurteilter. 

Erst wenn der Standesbeamte den folgenschweren Satz äußert: Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau, wird aus zwei freien Menschen ein Ehepaar. 

Und wie Margret Thatcher es einmal formulierte: Being powerful is like being a lady. If you have to tell people you are, you aren’t.  Selbstbezichtigung hilft also nicht. Sie muss auch anerkannt werden. Und diese Anerkennung bekommt im Fall von Devianz und Kriminalität erst dann gesellschaftliches Gewicht, wenn sie aus dem Mund der dazu lizensierten Agenten kommt und das können, wie uns Helge Peters gelehrt hat, auch wohlmeinende Sozialarbeiter sein.

Während der LA sich allmählich zum versunkenen Kulturgut der kritischen Kriminologie entwickelte, und kaum einer mehr einen diskussionsanregenden Funken daraus schlagen wollte, ja sogar kritisch-kriminologische Renegaten zu Wort kamen, die den Begriff des Verbrechens wieder in die Diskussion einführen wollten, konnte man rund herum interessante Neuentdeckungen beobachten. Ende der Neunziger Jahre machte in der Politikwissenschaft ein Buch von Buzan, Waever u.a. Furore, das einen New Framework for Analysisfür die Sicherheitsforschung einführen wollte.

Ich habe seinerzeit das Buch für die Bibliothek bestellt und war erstaunt, als ich dann las, das Neue sei jetzt die Einsicht, dass man ein Politikfeld sekuritisieren könne. Wenn die relevanten Akteure erklären, es handle sich bei einem Problem um ein Sicherheitsproblem, dann hat das zur Folge, dass es als ein solches behandelt wurde. 

Hätten die Politikwissenschaftler doch bei Helge Peters oder sonst einem Vertreter der kritischen Kriminologie nachgefragt, wir hätten ihnen das schon viel früher erklären können. Ähnliches ließ sich beobachten in anderen Bereichen. Die Science and Technology Studiesnahmen die Idee auf und was heute unter dem etwas reißerischen Titel der New Ontologyfirmiert ist für uns in der Wolle gefärbte kritisch kriminologische Konstruktivisten auch nothing to write home about. Höchstens könnte man befriedigt zur Kenntnis nehmen, dass jetzt auch Vertreter der hartleibig objektivistischen Naturwissenschaften auf den konstruktivistischen Trichter gekommen sind.

Sieg auf der ganzen Linie also? Ja, einerseits. Andererseits aber: was hat die kritische Kriminologie aus dem Konstruktivismus gemacht? Sollte man den LA nicht wie eine Art Wittgenstein’sche Leiter verstehen, als ein epistemologisches Instrument, das es ermöglicht, eine neue Ebene des Verständnisses zu erreichen? Jetzt aber, auf dem erhöhten Plateau wäre es notwendig den Blick nach vorne, auf die nächste Steilwand zu richten. Was aber ist passiert? Die einen sprangen zurück, dorthin wo man dank des LA entflohen war und propagierten eine allgemeine Theorie des Verbrechens, die etwas altbacken wirkte. Andere machten es sich auf der Plattform des LA bequem, zäunten ihre Territorien ein und ernteten jedes Jahr die gleichbleibenden Früchte der Publikation aus dem Schrebergarten. Die Welt aber entwickelte sich weiter: erstens wurden die vormals avantgardistischen Befunde der kritischen Kriminologie zum trivialisierten Handlungswissen der dominanten Kontrollagenten und flossen dort in die Betriebs- und Haus-Ideologie ein. Die manchmal paradoxen Folgen wurden kaum analysiert. Zweitens wurden auf dem Markt der intellektuellen Steighilfen neue Wittgenstein’sche Leitern angeboten. Neue Ideen aus dem Erbe des verstorbenen Michel Foucault standen da, aus dem angelsächsischen Raum kam die Idee einer Entkopplung von Norm und Sanktion, die aus Kanada kommenden Surveillance Studieswarfen ihr Licht auf neue Phänomene, die auch für die kritische Kriminologie interessant hätten sein können. Dann kamen die Neurowissenschaften und im Kielwasser ihrer Popularisierung dümpelten die neu drapierten alten Ideen vom geborenen Verbrecher. Da hätte man ansetzen können – und zwar nicht nur mit dem Hinweis, dass ein Verhalten seine Bedeutung nicht in sich trage und Abweichung immer zugeschrieben ist oder Lombroso nicht recht hatte.

Wenn man mit einer gewissen Stilisierung sich auf eine kühne These einlässt, so könnte man im Angesicht vieler dieser Neuentwicklungen behaupten, dass sie alle durchtränkt sind mit dem konstruktivistischen Virus und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen sind die Erklärungsmodelle für menschliches Handeln oder soziale Phänomene getragen von der Annahme, dass es drauf ankommt, was vor Ort passiert und dass man dementsprechend genau hinschauen muss wie das soziologische Grundproblem der doppelten Kontingenz gelöst werden kann. Zum anderen ist das methodische und epistemologische Repertoire infiziert von der Idee, dass die Beobachter und das Beobachtete nur schwer zu trennen sind.

Ich will das am Beispiel der Neurowissenschaften in gebotener Kürze durchdeklinieren, weil ich mich hier mit den Problemen beschäftigt habe.

Die Neuroshaben in den letzten Jahren einen beachtlichen Prozess durchlaufen, den ich einmal als Selbstsoziologisierung bezeichnet habe. Die steilen Thesen von der biologischen Determinierung des Menschen sind vom Tisch und man hört aus dem Mund der vormaligen hard-core Neurowissenschaftler Sätze wie Das Gehirn ist das sozialste Organ des Menschen. Die methodischen Standards für Laborexperimente mit Knock-out Mäusen wurden geändert, nachdem man nachweisen konnte, dass Labortiere aus einem identischen Stamm unter identischen Laborbedingungen an unterschiedlichen Orten unterschiedlich reagieren. War’s der Tierpfleger, das Wetter? Man weiß es nicht. Nur, die dicken Wände des Labors werden brüchig und das Licht der sozialen Welt fällt herein.

Die großen Kohortenstudien, die mit enormem Aufwand das Devianz- oder Kriminalitätsgen finden wollten, finden neue neurochemische pathways, die zeigen, dass die Neigung zu abweichendem Verhalten durch Umwelteinflüsse getriggert wird. 

Gegen alle diese Befunde zeigte die kritische Kriminologie eine große Hartleibigkeit, man griff auf die vormals zu Recht ausgesprochene Fatwa gegen die Biologisten und Naturalisierer zurück. Und so saß man dann, wenn man sich mit diesen Leuten an einen Tisch setzte, zwischen den Stühlen. Von den Neuros wurde man für einen Spinner gehalten, der erstmal die Nomenklatur der Hirnareale lernen solle und die eigenen Kollegen aus der Kriminologen Community meinten bestenfalls man sei auf Abwege geraten, schlimmstenfalls wurde einem das Qualitätssiegel des Kritischen abgesprochen.

Aber wäre hier eine ironische Haltung nicht vielleicht hilfreich gewesen? Hätte man etwas vorangebracht, wenn man die eigenen Deutungen als kontingent betrachtet und sich auf neue Ideen eingelassen hätte? Wäre der Kreis der akzeptierten Anderen, zumindest innerhalb der Republik des Geistes vielleicht größer geworden und wäre man zu neuen Einsichten gelangt?

Ich selbst war einige wenige Male in der glücklichen Situation auf Kollegen zu treffen, die auf einem anderen Archipel arbeiteten und trotzdem mit mir redeten und daraus entwickelten sich Lerneffekte für beide Seiten. Solche Treffen ergaben sich seinerzeit als ich am HWK arbeitete mit Philosophen und manchen Neuropsychologen. Der Vorteil dort war, dass jeder in Ruhe seinen eigenen Schrebergarten bearbeitete, aber man traf sich beim Spaziergang durch die Gartenanlage und hielt ein angeregtes Schwätzchen über den Gartenzaun. Keiner musste etwas gegenüber dem Anderen verteidigen, keiner griff den anderen an, sondern man versuchte im eigenen Jargon das zu paraphrasieren, was einem der andere erzählte. Das konnte ganz erhellend wirken. 

In der Wissenschaftsgeschichte gibt es die bekannten Anekdoten über die Geburt neuer Disziplinen, die aus solchen Konstellationen erwuchsen. (z.B. die Soziolinguistik)

Man kann meines Erachtens bei solchen Formen des produktiven Austausches auf neue Ideen kommen, auf Ideen, die subjektiv ebenso kontraintuitiv wirken wie für die erstaunte Öffentlichkeit seinerzeit die Thesen des LA.  Manches sieht man im neuen Licht, wenn man die eigenen Bedenken probehalber einmal hintanstellt. 

Aber wenn man darauf beharrt, dass die eigene Position richtig und die der Gegenseite unhaltbar, gefährlich oder irrelevant ist, gerät man, gerade, wenn man die Fahne des Konstruktivismus hochhält in eine etwas paradoxe Situation. Man verteidigt eine Position vor dem Hintergrund der Annahme, dass wir zwar alle nur mit Konstruktionen arbeiten aber versteigt sich dann zu dem Hinweis, dass die Konstruktionen der Gegenseite irgendwie falsch sind und die Kriterien, die man dafür benötigt, sind innerhalb des konstruktivstischen Paradigmas nur schwer beizubringen.

In der kritischen Kriminologie fanden sich gelegentlich immer wieder solche Tendenzen zu einer Wagenburgmentalität. Man verteidigt das kanonisierte Erbe einer Tradition mit dem Habitus desjenigen, der sich mit seinem theoretischen Programm gegen festgefahrene Haltungen und Kanonisierungen wendet und zudem die Kritik an naturalisierten Deutungen predigt. 

Manch einer oder eine entwickelte dabei den Habitus des Lordsigelbewahrersder reinen Lehre. Und das gerät schnell in Konflikt mit der Forderung nach Offenheit eines dem Konstruktivismus verpflichteten Intellektuellen. 

Helge Peters hatte da für mich immer eine Sonderstellung. Wiewohl er stets darauf beharrte, dass die Grundannahmen des LA immer und überall gültig zu sein haben, wenn man kritische Kriminologie betreibt, hat er dann doch hin und wieder gegen den Stachel des kanonisierten Mainstream gelökt. Seine gerade diskutierten Überlegungen zum universellen Verbrechen sind das beste Beispiel dafür. 

Die Gefahr dabei ist, dass man im Diskurs mit anderen in den Modus der Rechthaberei verfällt. Man sagt also nicht: hier ist ein Thema, das beide Seiten interessiert und von jeder Position aus treten andere Aspekte dieses Themas ins Licht oder in den Vordergrund. Vielmehr sucht man nach den Fehlern der Gegenseite, bringt eigene Argumente und Belege defensiv in Stellung und am Schluss hat man das Szenario von den fünf blinden Männern, die den Elefanten beschreiben und sich nicht einigen können, was für ein Objekt sich ihrem Tastsinn darbietet. 

Dagegen ist kein methodisches Kraut gewachsen. Aber man kann – und da ist Helge Peters abschließend und umfassend zu loben, die kanonisierten Ideen der eigenen Community gelegentlich ordentlich gegen den Strich bürsten.


[1]Aktueller Aufhänger für diese Auseinandersetzung ist Helge Peters‘ Aufsatz „Über das Selbstverständliche“ in dem er sich mit der Frage der Invarianz von Devianzthematisierungen beschäftigt und meine Replik darauf, beide in Kriminologisches Journal Heft 4/2017.

 
Reinhard KreisslComment