Die Spitze des Eisbergs

 

Die medienöffentliche Diskussion über die Praktiken eines renommierten Chirurgen am Wiener AKH, der angeblich Operationen durchführte, bei denen er gar nicht anwesend war, wirft ein Licht auf die Ökonomie des universitären Systems weit über den Bereich der Medizin hinaus. Die mit den Notwendigkeiten von Lehre und Forschung begründete akademische Freiheit dient – mit Billigung aller profitabel Beteiligten – als Vorwand für eine Kultur der privaten Bereicherung. Persönliche Karriereinteressen und finanzielle Motive haben dazu geführt, dass höchst problematische Praktiken zur Normalität in der Universität geworden sind. Die Mechanismen der professionellen Selbstkontrolle versagen, wenn eine mächtige Minderheit von diesen Praktiken profitiert.

Akademische Forschung und Lehre sind arbeitsteilig organisiert. Diese Arbeitsteilung trägt nach wie vor stark feudale Züge: Eine kleine Gruppe von Professoren, unterstützt von Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern, je nach Disziplin zusätzliches Personal (von Pflegern bis Labortechnikern) und ein großes Reservoir von prekär beschäftigten Vertragsbediensteten, die für die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs an Massenuniversitäten verantwortlich sind, leisten ihren Beitrag und übernehmen Aufgaben des akademischen Betriebs. Die Macht – über Rekrutierung, Finanzierung, Aufteilung der Arbeit, Verlängerung von Verträgen – liegt bei der Gruppe der Professoren und den von ihnen dominierten universitären Gremien. Die Bezahlung der unterschiedlichen Mitarbeitergruppen, ihr arbeitsrechtlicher Status, ihre Arbeitsbelastung und die Möglichkeiten, diese zu gestalten, unterscheiden sich. Die kleine Spitzengruppe der ordentlichen Universitätsprofessoren verfügt über die größte Freiheit und erhält – im Vergleich zu den ihnen Nachgeordneten – die höchste Vergütung. Diese Freiheit einschließlich der lebenslangen finanziellen Sicherheit wird begründet mit den Besonderheiten wissenschaftlicher Produktion. Dafür bedürfe es der materiellen Unabhängigkeit und – je nach Disziplin – ausreichender Mittel, um die Bedingungen zu sichern, unter denen neue Erkenntnisse, neues Wissen durch wissenschaftliche Forschung hervorgebracht, publiziert und durch Andere dann überprüft werden könne. Soweit die Theorie. Getragen wird diese Fiktion von einem Bild des in Einsamkeit und Freiheit seinem akademisch-intellektuellen Eros frönenden Ordinarius, umgeben von einer Schar wissbegieriger Assistenten-Jünger, die dem Meister (und zunehmend auch der Meisterin) in kritischer intellektueller Aufmerksamkeit ihre Arbeitskraft gegen geringe Bezahlung zur Verfügung stellen. Sie wiederum treibt die Hoffnung, eines Tages dort zu landen, wo ihr Brotgeber heute sitzt, an der Spitze der Privilegien-Pyramide.

Diese potemkinsche Fassade wird gestützt durch eine dahinterliegende Konstruktion aus Mauschelei, Faulheit, Gier und Konkurrenz. So überreicht der Primar, der unter Ausnutzung der öffentlichen finanzierten Infrastruktur der Universitätsklinik, übers Jahr eine erhebliche Anzahl von Privatpatienten auf eigene Rechnung behandelt, bei der Weihnachtsfeier den auf seiner Station tätigen Krankenschwestern schon mal einen Umschlag mit Schweigegeld, das als nicht zu versteuerndes 15. Und 16. Monatsgehalt gerne entgegengenommen wird. So erklärt der Professor, den man am Ort, an dem er seiner bezahlten Arbeit nachkommen sollte, kaum zu Gesicht bekommt und der das Hilfspersonal, das ihn in seinen verpflichtenden Vorlesungen vertritt aus dem universitären Globalbudget bezahlt, seine höchst lukrative außeruniversitäre Tätigkeit – als Architekt, Maschinenbauer, Rechtsanwalt, Wirtschaftswissenschaftler – als „Forschung“, die angeblich in seine – von Anderen durchgeführte – Lehrveranstaltung einfließt.  So reisen die verbeamteten Geistesgrößen aus den nicht-technischen Fächern von Tagung zu Tagung und halten während des Semesters Vorträge an anderen Orten, während die Betreuung der Studierenden an das Lehrstuhlpersonal weitergereicht wird und erklären dies als Beitrag zum internationalen akademischen Marketing, das die heimische Alma Mater endlich über die Schwelle der Wahrnehmbarkeit bei den diversen Rankings heben soll. So schrumpfen Lehrmodule von 20 bis 30 Semesterwochenstunden auf ein einmal pro Woche stattfindendes Treffen mit Studierenden zusammen, während sich Professoren und Assistenten das volle Stundendeputat gehaltswirksam gutschreiben lassen.

Ein im Prinzip sinnvolles System professioneller Selbstverwaltung und akademischer Freiheit ist hier umgekippt. Unter dem Schweigegebot der akademischen Omertá sind robuste, mafiaartige Strukturen entstanden. Durch den Einsatz von Belohnung und Bestrafung, durch Gewährung von Vorteilen und Verwehrung von Karrierechancen reproduziert sich hier eine Ordnung, die nicht nur höchst unakademische Tugenden prämiert, sondern auch verhindert, dass Wien, eine Stadt mit immerhin sechs bis sieben vollwertigen Universitäten den Anschluss an eine Tradition wieder gewinnt, die diese Stadt vor hundert Jahren zu einem der produktivsten intellektuellen Zentren Europas machte.

 
Reinhard KreisslComment