Peter Pilz oder Wie machen wir uns betroffen?

 

Ist es mangelnde Differenzierungsfähigkeit, ungezügelte Lust am Spektakel oder die sadistische Freude an der Vernichtung einer Person des öffentlichen Lebens? Was befeuert diese politisch und sozial destruktive Erregung? Vermutlich eine Mischung aus alldem.

Als hauptberuflichem Nebenerwerbswiener und seit inzwischen gut einem Jahrzehnt immer noch staunendem Beobachter des Lebens in der Stadt, in der die Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre in Hinterzimmern kollabiert, bestätigt mir die Causa Pilz und Sex einerseits meine in langen Wiener Jahren gereifte Einsicht, dass die Satire die Realität nie einholen kann. Hoher Unterhaltungswert! Nicht zuletzt, wenn man bedenkt, wie das Thema medial gespielt wurde: Presse und Profil legten den Köder aus, und er wurde, wie zuletzt in der sogenannten Causa Silberstein, freudig geschluckt. Damit zeigt sich andererseits beim Seitenblick auf atypische Krisengewinnler von Frauenbetroffenen bis zu Linksboulevard à la Falter, dass wenig Hoffnung besteht, die politische Diskussion jemals auf aktuell wichtige Themen zu konzentrieren.

Auf zum Schafott

Politische Kritik wird ersetzt durch Erregungs- und Enthüllungsspektakel, Mysterienspiele, aufgeführt von Sekundärtugendbolden (und -boldinnen!). Enthüllung als Selbstzweck, das verbindet Klenk und Pilz. Einem Zeitungsredakteur mag man es nachsehen, wenn er die Ideen der Aufklärung mit Aufdeckung verwechselt und seine journalistischen Entscheidungen am Erregungswert der nächsten Schlagzeile orientiert. Aber ein Politiker, dessen Reputation auf Skandalisierung durch Aufdecken basiert, läuft ohne weitere programmatische Deckungsreserve Gefahr, in die Tugendfalle zu tappen. Wenn Reinheit, Aufrichtigkeit und Botmäßigkeit im Angesicht wechselnder tagesaktueller Tugenderfordernisse (Umwelt, Ausländer, Frauen, Rauchverbot, Tiertransporte) zum alleinigen Maßstab werden, bleibt im Angesicht geschickt platzierter Vorwürfe wenig übrig, als dem ausgestreckten Zeigefinger zu folgen und aufs Schafott zu steigen.

Destruktive Erregung

Ist es mangelnde Differenzierungsfähigkeit, ungezügelte Lust am Spektakel oder die sadistische Freude, aus der Deckung des Beobachters der medial inszenierten Vernichtung einer Person des öffentlichen Lebens beiwohnen zu können? Was befeuert diese politisch und sozial destruktive Erregung? Vermutlich eine Mischung aus alldem. Ob mein Zahnarzt seine Assistentin gegen ihren Willen berührt, ist mir ziemlich egal, wenn ich mit weit geöffnetem Mund auf eine kompetente Wurzelbehandlung hoffe. Als Bürger werde ich mich natürlich unabhängig davon dafür einsetzen, dass dergleichen geahndet wird. Aber den Teufel werde ich tun und die Schließung seiner Praxis fordern! Das täte ich, wenn er sein Handwerk nicht beherrschte oder seine Kundschaft unter Ausnutzung ihrer dentalen Notlage sexuell nötigte. Tugendhaftes Verhalten sollte nicht zum exklusiven Maßstab für die Bewertung einer Person werden. Schon Hegel räsoniert in der Rechtsphilosophie über den Mörder, dass dieser als Mensch nicht auf diese eine und meist momenthafte Tat reduziert werden sollte. So viel Differenzierung sollte sein. Es geht dabei nicht um die Verharmlosung von geschlechtsasymmetrischen Verhältnissen, um das Kleinreden männlichen Fehlverhaltens in Parlamenten, Bierzelten oder Universitäten. Vielmehr geht es um ein kurzes Innehalten im Angesicht von plötzlich auflodernden Skandalen, die mehr bewirken, als uns alle wieder einmal daran zu erinnern, dass sexuelle Selbstbestimmung ein hohes Gut ist. Karl Kraus stellte fest, dass der Skandal immer erst dann beginnt, wenn die Polizei ihm ein Ende bereitet. Die Welt, auch und gerade in einer Stadt wie Wien, ist voller Dinge, denen die Tugendpolizei in der Art, wie es gerade Peter Pilz widerfahren ist, ein Ende bereiten könnte. Die selbsternannten Saubermänner und Aufdecker ließen sich hier ohne weiteres auch zum Objekt wohlfeiler Empörung machen. Aber es werden immer nur bestimmte Vorkommnisse ins Licht des Skandals gestellt. Damit bleibt vieles im Dunklen, geschehen Dinge, die – bei allem Respekt – wichtiger sind als die Frage, ob ein Herr P. einer Frau X vor längerer Zeit in einer nicht näher bezeichneten Weise als unziemlich zu deklarierende Avancen gemacht hat.

Wohlfeile Forderungen ...

Die dem linken wie rechten Boulevard wohlfeile Forderung nach Offenheit und Transparenz im Namen der Tugend und Moral ist eine problematische Allzweckwaffe. Wer nichts zu verbergen habe, könne sich ruhigen Gewissens der staatlichen Datensammelwut unterwerfen. Diese Forderung lässt sich damit ebenso begründen wie das mediale Anprangern von Problemen, deren Ernsthaftigkeit niemand in Abrede stellen wird, die aber durch solche Aktionen und Menschenopfer weder besser verständlich noch einer Lösung nähergebracht werden.

... und andere Fragen

Solange sich eine politische Öffentlichkeit im Wettbewerb periodisch abwechselnder Opfer um möglichst große Betroffenheit des Publikums erschöpft und die Frage "Wie wollen wir leben?" auf ein genderpolitisches Spektakel reduziert wird, haben andere Kräfte ein leichtes Spiel. Solange die Tugendpolizei Überstunden bei der Jagd auf Männer macht, die sich aufgeklärten Frauen unangemessen genähert haben, bleibt eine Politik, die Frauen wieder in jene Rolle zurücktreiben will, aus der sich die Beschwerdeführerinnen durch ihr Aufbegehren meinen befreit zu haben, ohne Gegenwehr.

 

Dieser Artikel erschien in Der Standard, am 06.11.2017, als Kommentar der Anderen.

 
Reinhard KreisslComment