Die Lücken im Netz des österreichischen Gewaltschutzsystems: Einblicke in Ergebnisse aus zwei Forschungsprojekten
Gewalt in Partner- und Verwandtschaften ist ein ernsthaftes Problem, und die mit viel medialer Beachtung bedachten Femizide, sind die Spitze dieses Eisberges. Das österreichische Gewaltschutzsystem, welches sich aus verschiedenen Organisationen, insbesondere der Polizei, Gewaltschutzzentren, Frauenhäusern, Männer- und Frauenberatungsstellen und Opferschutzgruppen in Krankenhäusern zusammensetzt, ist dabei grundsätzlich nicht schlecht aufgestellt. Mit der Möglichkeit zu Verhängung eines 14-tägigen Betretungs- und Annäherungsverbots (BA-V) gemäß §38a Sicherheitspolizeigesetz verfügen etwa die Sicherheitsbehörden über eine niederschwellige, weil ad hoc vor Ort von den einschreitenden Beamt:innen verfügbare, Interventionsmaßnahme. Seitdem mit der Verhängung des BA-V Gefährder:innen zu einer Gewaltpräventionsberatung verpflichtet sind, wurde der Präventionscharakter des BA-V nochmals gestärkt. Die Arbeit von Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser und anderer Beratungsstellen zeichnet sich nicht nur durch eine hohe Expertise und starkes Engagement der Mitarbeiter:innen aus, sondern ist auch strukturell eingebettet, bspw. in Form solider Kooperationsbeziehungen mit den Sicherheitsbehörden, wo Mitarbeiter:innen aus Gewaltschutzzentren in der Ausbildung von Polizisten:innen beim Thema Gewaltschutz involviert sind. Im Gesundheitssektor wiederum ist die seit 2011 geltende gesetzliche Verankerung von Opferschutzgruppen in Krankenhäusern ein wichtiger Stützpfeiler, auch wenn mangels gesetzlich vorgesehener Finanzierung die Implementierung noch sehr unterschiedlich gut gelingt.
Wie gut der Gewaltschutz in Österreich in der Praxis nun tatsächlich funktioniert, wird derzeit in zwei europäischen Forschungsprojekten, an denen VICESSE beteiligt ist, nämlich IMPROVE und VIPROM untersucht. Im Rahmen dieser Projekte wurden sowohl die Erfahrungen von Opfern als auch die Sichtweise von Expert:innen aus den verschiedenen oben genannten Organisationen erhoben. Die ersten Ergebnisse dieser beiden Studien zeigen dabei, dass die Lage in Österreich zwar tatsächlich nicht schlecht ist, in manchen Bereichen aber ernstzunehmende Lücken im Unterstützungsnetz bestehen, insbesondere für bestimmte Gruppen von Opfern. Eine derartige Lücke besteht etwa im Zusammenhang von Gewalt gegen oder ausgehend von pflegebedürftigen Personen. In solchen Fällen, wenn sie denn überhaupt bemerkt und gemeldet werden, stellt sich oft die Frage, wohin eine zu pflegende Person, die gewalttätig wurde, weggewiesen werden kann oder – im umgekehrten Fall – wer ad hoc die Pflegearbeit übernimmt, wenn bspw. pflegende Partner:innen gewalttätig werden. In Österreich existiert diesbezüglich noch kein einheitliches Interventionskonzept, und derartige Situationen stellen stets die Gefahr dar, dass während es in manchen Regionen gute Lösung gibt, an anderen Orten Betroffenen allein gelassen werden. Eng verwandt mit diesem Problem ist der eher schlecht abgestimmte Gewaltschutz für ältere Menschen, was unter anderem daran liegt, dass diese Gruppe mit gängigen Informations- und Aufklärungsmaßnahmen schwer zu erreichen ist. Eine weitere Opfergruppe, die gegenwärtig nur am Rande bedacht wird, sind Männer. Hier trägt neben dem nach wie vor stark verfestigten Blick auf Männer ausschließlich als Gefährder und Täter, das Fehlen geschlechtsspezifischer Opferschutzinfrastruktur bei. So existiert bspw. in ganz Österreich kein einziges „Männerhaus“, in das männliche Gewaltopfer flüchten könnten.
Neben solchen Defiziten im Schutz bestimmter Opfergruppen gibt es auch in bestimmten Sektoren, wie etwa dem medizinischen Bereich, noch strukturellen Aufholbedarf. Zwar existiert in Österreich im Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten (KAKuG) in §8e (4) die gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung von Opferschutzgruppen (OSG) in Krankenanstalten, wie genau diese organisiert sein müssen und welche Aufgaben sie konkreten übernehmen, ist aber kaum geregelt. Dies wiederum führt dazu, dass in einzelnen Krankenhäusern bspw. eigene finanzierte Stellen geschaffen wurden, die für die Organisation des Opferschutzes zuständig sind, während in anderen Anstalten die Qualität des Opferschutzes allein vom Engagement einzelner Mitarbeiter:innen abhängt, die diese Aufgaben neben ihrer eigentlichen Tätigkeit verrichten. Auch bei der Polizei, die grundsätzlich gut aufgestellt ist, bestehen nach wie vor Lücken. So fehlt es in Österreich etwa an einem einheitlichen Standard zur Risikoeinschätzung von Gefährdern, welches Beamt:innen beim Einschreiten vor Ort verwenden können, um einzuschätzen, ob es sich um einen „Hoch-Risiko-Fall“ handelt, welcher dann besondere Schutzmaßnahmen nach sich ziehen würde. Das Fehlen eines einheitlichen Beurteilungsmaßstabes birgt dabei zwei Risiken. Erstens können unterschiedliche Instrumente von unterschiedlicher Qualität im Hinblick auf die Treffsicherheit der Risikoeinschätzung sein. Zweitens, wird durch das Fehlen eines einheitlichen Standards mehr Verantwortung für die Qualität der Einschätzung auf die einschreitenden Beamt:innen übertragen, deren Kompetenz bei der Risikoeinschätzung je nach Erfahrung mit solchen Fällen aber variieren kann.
Obwohl das österreichische Gewaltschutznetz also über gute Grundstrukturen verfügt, bestehen gerade für bestimmte Gruppen und in bestimmten Bereichen ernstzunehmende Lücken, die es zu schließen gilt, wenn Gewaltschutz wirklich für alle Opfer zugänglich sein soll. Auf Ebene des Bundes müssten in Zukunft bspw. Bemühungen unternommen werden, um Rahmenbedingungen zu schaffen, auf deren Grundlage bundesweit einheitlich Interventionskonzepte bei Gewalt von oder gegen pflegende Angehörige zwischen Polizei und Sozialdienstleistern verhandelt werden können. Eine Verbesserung des Gewaltschutzes für Männer wiederum würde zunächst eine bessere wissenschaftliche Aufarbeitung des Ausmaßes und der konkreten Formen von Gewalt gegen Männer in Beziehungen sowie der Erhebung der Bedürfnisse männlicher Gewaltopfer bedürfen. Flankiert werden müssen solche Maßnahmen von allgemeineren gesellschaftspolitischen Bemühungen, die sowohl die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten etwa in Bezug auf Geschlechtergleichstellung adressieren müssen, als auch die Aufgabe der Gewaltprävention in die Communitys, bspw. Gemeinden und Städte, aber auch in Sport-, Natur-, Musik- oder Kultur- und Religionsvereine hineintragen müssen. Schließlich kann Gewaltschutz praktisch nur durch ein erhöhtes soziales Verantwortungsgefühl und eine entsprechende Aufmerksamkeit sozialer Netzwerke realisiert werden.