Sprechen wir dieselbe Sprache über Technik? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf interdisziplinäre (Miss)Verständnisse in Forschungsprojekten am Beispiel des Artefakt-Begriffs
Softwareprogramme, Hardware-Devices, Use Cases, Künstliche Intelligenz, Machine Learning, all das sind Begriffe, die heutzutage in interdisziplinären Forschungsprojekten geläufig sind. Scheint es auf den ersten Blick vollkommen klar zu sein, worüber gesprochen wird, bewirken die verschiedene Wissensvorräte der jeweiligen Disziplin doch eine Vielzahl an divergierenden Verständnissen und Betrachtungsweisen von Technik.
Im KIRAS-Forschungsprojekt MAIJA[1] wird derzeit ein „digitaler Assistent“ entwickelt, ein „Mobile Artificial Intelligence Justice Assistant“ (MAIJA), der die Justizwache vor allem in ihrer administrativen Tätigkeit in der Justizanstalt unterstützen soll. In Anschluss an das Vorgängerprojekt DIGDOK[2] soll dabei unter anderem die Applikation zur Haftraumdurchsuchung mittels Objekt- und Texterkennung, Textsynthese sowie der KI-basierten Erkennung und kontextsensitiven Zuweisung von Tasks erweitert werden.
Insgesamt sind sieben Funktionen des digitalen Assistenten definiert, die unterschiedlichen technischen Funktionsweisen folgen. Den Anstoß zu diesem Blogbeitrag bekam ich in einem Projektmeeting, als diese Funktionen von einem technischen Projektpartner als „Artefakte“ bezeichnet wurden. Artefakte beschreiben für mich als Sozialwissenschaftlerin, Gegenstände, die eine ganz spezifische soziale Funktion haben und mit Bedeutung für das soziale Handeln versehen sind. Diese Bezeichnung lieferte mir daher den Anlass dafür, mich intensiver mit den Bedeutungen und Verwendungszusammenhängen des Worts „Artefakt“ zu beschäftigen, um damit, die unterschiedlichen fachliche Zugänge zu Technik zu veranschaulichen. Der auf diese Weise entstehende Überblick über die divergierenden Verwendungszusammenhänge des Begriffs „Artefakt“, soll das integrative Verständnis von Technik in der interdisziplinären Zusammenarbeit fördern.
Artefakt als Gegenstand
Artefakte[3] werden allgemein als materielle oder immaterielle Gegenstände verstanden, die von Menschen hergestellt werden. Sie grenzen sich damit von allen Gegenständen ab, die unabhängig von menschlicher Einwirkung existieren. Anders ausgedrückt, kann ein Artefakt jeder Gegenstand sein, der durch menschliches Tun, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, produziert wurde. Im Weiteren wird daher das Wort Gegenstand synonym zum Begriff Artefakt verwendet.
Für die Sozialwissenschaft interessant ist der spezifische Entstehungs- und Anwendungsprozess dieser Gegenstände. Darin sind, einerseits die Bedeutung menschlicher Aktivitäten eingeschrieben, andererseits verändert deren Benutzung wiederum das Handeln. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung des „digitalen Assistenten“ MAIJA. Eine Funktion des Assistenten soll darin bestehen, die Durchsuchung von Hafträumen mittels Smartphone anhand von Objekt- und Texterkennung künftig zu erleichtern. Eine Haftraumdurchsuchung gestaltet sich aktuell häufig wie folgt: zwei Justizwachebedienstete gehen ausgerüstet mit Handschuhen und einer Digitalkamera auf Anordnung des Kommandos in einen Haftraum. Dort nehmen sie ein Foto des Haftraums auf, bevor sie mit dem gründlichen Durchwühlen diverser möglicher Verstecke beginnen. Im Fall eines Fundes wird dieser fotografiert und anschließend wird eine Meldung geschrieben. Dazu befinden sich die Justizwachebediensteten meist beim Stand-PC im Dienstzimmer der Abteilung, wo nun die angefertigten Fotos und Notizen durch mehrere Arbeitsschritte in verschiedenen Programmen zu einer Gesamtmeldung zusammengeführt und gespeichert werden. Mit der Applikation „Haftraumdurchsuchung“ gestaltet sich der Ablauf funktionaler. Mit dem Smartphone können alle relevanten Bilder und Texteingaben direkt während der Durchsuchung erstellt und verarbeitet werden. Durch die zusätzliche Funktion der Objekt- und Texterkennung sollen gefundene Gegenstände künftig schneller zuordenbar und administrierbar gemacht werden. Der Einsatz der Applikation und die damit verbundene Verwendung des Smartphones verändert dabei aber auch die menschlichen Handlungsabläufe. Im Haftraum wird jetzt nicht mehr nur gewühlt, sondern auch getippt und gescannt. Zudem kann die Reihenfolge von Handlungsabläufen digital vorgegeben werden, wodurch sie im Vergleich zum Status Quo verstärkt, standardisiert werden. Das verwendete Smartphone hat also mehrere Eigenschaften: es verfügt über digitale Anzeige- und Eingabefunktionen, besitzt verschiedene elektrotechnische und technologische Eigenschaften und besteht in diesem Sinne als Hard- und Software. Demzufolge könnte man es auch als „technisches oder digitales Artefakt“ bezeichnen.
Digitales und technisches Artefakt
Wird der Begriff „digitales Artefakt“ im Google Suchfeld eingegeben, so erscheinen eine Menge Vorschläge und Definitionen aus dem technischen Bereich. Aus informationstechnischer Perspektive bezeichnen digitale Artefakte Inhalte, die anhand von Informatiksystemen erzeugt werden. Ein Smartphone selbst wäre demnach kein digitales Artefakt, dessen Betriebssystem jedoch schon. Im Gespräch mit Techniker:innen wird deutlich, dass es unterschiedliche Definitionen „digitaler Artefakte“ gibt. So können diese im Wissenschaftsfeld der Informationssysteme sowohl materielle als auch immaterielle Objekte sein, die das Sammeln von Daten, Prozessieren und Verarbeiten ermöglichen.[4] Dies beinhaltet daher Hardware und Software. Andere Techniker:innen kennen „digitale Artefakte“ jedoch mehr als unerwünschte, meist unbeabsichtigt entstandenen visuelle Phänomene in einer Applikation oder in einem Programm, wie zum Beispiel ein Farbeffekt, der aufgrund der Datenübertragung oder einer bestimmten Programmierung ungewollt entsteht.
In Abgrenzung dazu wird der Recherche[5] folgend das „technische Artefakt“ mehr in Bezug auf dessen technische Funktion gesetzt, womit eher materielle Gegenstände gemeint sind, die unter die allgemeine Rubrik Technik fallen. Das kann einen Rasenmäher, eine Uhr, eine Kaffeemaschine, ein Windrad aber auch ein Smartphone meinen. Trotz der Vielfalt an möglichen Definitionen des Begriffs Artefakt ergeben sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht Gemeinsamkeiten: den technischen Gegenständen liegen jeweils spezifische Bedeutungen für das soziale Handeln zu Grunde, die jenseits der funktionalen Praxis wie dem Stutzen des Rasens oder dem Ablesen der Uhrzeit zu finden sind. In der sozialwissenschaftlichen Artefaktanalyse[6] kann in der systematischen Betrachtung einer Armbanduhr, deren spezifische Bedeutung für das soziale Handeln erkannt werden, was meint, dass der Gegenstand nicht nur für das Ablesen der Uhrzeit dienlich sein kann, sondern das Tragen auch für ein geordnetes Zeitmanagement stehen kann, einen bestimmten Status symbolisieren kann (Bsp. Rolex-Uhren) oder als Smart-Watch das Gesundheitsbewusstsein unterstützen und hervorheben soll, wenn die täglichen Schritte aufgezeichnet und als Tagesziele erreicht werden.
Ebenso wie in den technischen Berufen gibt es auch in den Sozialwissenschaften keine eindeutige Definition von technischen Gegenständen. Artefakte können mit verschiedenen Begriffen bezeichnet werden, je nachdem, mit welcher epistemologischen Perspektive sich die Forschenden dem Gegenstand annähern. So finden sich die Bezeichnung „technische Artefakte“ als allgemeine Beschreibung bei Froschauer und Lueger (2020, 129–136) und meint zum einen eine Vielfalt an Gegenständen in verschiedenen organisationalen Settings, die meist als Artefaktverbund vorzufinden sind. Dabei handelt es sich um einzelne Gegenstände, die miteinander kombiniert eine organisationale Gesamtaufgabe erfüllen, wie beispielsweise in der Produktion einer Ware. Zum anderen werden Artefaktteile von eigenständigen Artefakten unterschieden. Letztere sind als in sich geschlossene Einheiten definiert, die eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Hinzu kommen virtuelle Komponenten wie die Anwendung von VR-Brillen oder anderen elektronischen Darstellungsformen, deren Informationsausgabe meist von der Eingabe der Nutzer:innen abhängt. Für die Nutzung werden u.a. Tastatur, Maus und Bildschirm benötigt, weshalb die Kombination dieser technischen Gegenstände als Technikensemble zu verstehen ist.
Für die sozialwissenschaftliche Analyse sind technische Artefakte daher nicht nur in ihrer handfesten Materialität, sondern eben auch in ihrer soziotechnischen Konstellation äußerst komplex in die Arbeitsweisen und alltäglichen Handlungen integriert. So stehen daher beispielsweise in der Analyse von Softwareprogrammen eher deren spezifische Funktion für das Organisieren von aufeinander bezogenen Handlungsabläufen im Fokus, wenn nach organisationssoziologischen Zusammenhängen gefragt wird. Die materielle Zusammensetzung einzelner technischer Bauteile des Geräts, welche für die visuelle Darstellung des Programms benötigt werden, betrifft aus techniksoziologischer Perspektive hingegen eher Fragen der sozialen Ungleichheit in der Technikentwicklung.
In der Suche nach der sozialwissenschaftlichen Beforschung „digitaler Artefakte“ wird schließlich der Begriff der „digitalen Plattform“ gebräuchlich. Diese ist aus soziologischer Perspektive als sozio-kulturelles Artefakt[7] zu verstehen, wodurch die Bedeutung für den Diskurs hervorgehoben wird, in dem sich dieser technische oder digitale Gegenstand befindet. Aufgrund der begrifflichen Vielfalt und der Orientierung an technisch und alltagssprachlich gebräuchliche Bezeichnungen, wie z.B. das „Softwareprogramm“, schlägt Ametowobla[8] (2020, S. 4) vor, den Begriff „digitale Plattform“ für sozialwissenschaftliche und techniksoziologische Analysen zu nutzen. Eine digitale Plattform wird von ihr als Architektur verstanden, als „[…] ein Strukturmuster, das in den Beziehungen sozialer Systemen ebenso erkannt werden kann wie in den Verbindungen zwischen Elementen technischer Systeme.“ (Ametowobla 2020, S. 4). Die Analyseperspektive liegt demzufolge auf einer dem Artefakt immanenten Struktur. Diese Artefaktdefinition ermöglicht der Sozialwissenschaft, mittels einer Artefaktanalyse[9], die Untersuchung von sozialen Strukturen, die dem Handeln zu Grunde liegen. In der Techniksoziologie wird die Perspektive auf soziale Strukturen durch die Akteur-Netzwerk-Theorie [10] insofern erweitert, dass solcher Plattformen als eigene sozio-technische Akteur:innen betrachtet werden und ihnen damit Handlungsmacht zugeschrieben wird.
Die Applikation Haftraumdurchsuchung, welche am Smartphone mittels eines spezifischen Betriebssystems funktioniert, kann schließlich aus organisationssoziologischer Perspektive als Artefakt bezeichnet werden. Dies eröffnet folgende analytische Dimensionen[11], um die Bedeutung für soziales und insbesondere für organisationales Handeln zu erschließen: (i) Logik des Anlasses, (ii) Logik der Produktion, (iii) Logik des Gebrauchs und (iv) Logik der
Anwendung des Artefakts. Je nachdem, welches Erkenntnisinteresse die Analyse leitet, wird ein Schwerpunkt auf den dann relevanten Aspekt gelegt. Analysen des konkreten Anlasses der Entstehung und der allgemeinen Produktion dieses Artefakts betrachten stärker die Gründe für dessen Vorhandensein und fokussieren damit beispielsweise die sozialen Produktionsbedingungen der Applikation (z.B.: wer programmiert sie, welche Daten und welches Material wird verwendet, etc.). Fragen nach dem unterschiedlichen Gebrauch und der spezifischen Anwendung der Haftraumdurchsuchungsapplikation zielen auf dessen Verwendungszusammenhang ab, wodurch eher das Verstehen von sozialer Interaktion und deren Veränderung im Fokus liegt (z.B.: Handhabung vor Ort, Vergleich mit anderen Applikationen, Veränderung der Handlungsabläufe). Das Artefakt wird in der Artefaktanalyse[12] jedenfalls immer als der zentrale Analysegegenstand verstanden, indem vor allem die Bedeutungen für organisationales Handeln eingeschrieben sind und dessen Anwendung eben jene Handlungen verändert, wie eingangs am Beispiel der Haftraumdurchsuchungsapp gezeigt wurde.
Resumé
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in allen Disziplinen und sogar innerhalb derselben Wissenschaftsdisziplin divergierende Verständnisse von Technik existieren, wie dies beispielhaft für die Organisationssoziologie in Abgrenzung zur Techniksoziologie gezeigt wurde. Während in technischen Berufen Artefakte mitunter als spezifische Phänomene oder Funktionen verstanden werden, erweitert die sozialwissenschaftliche Perspektive, die Betrachtung technischer Gegenstände auf deren Bedeutung für das soziale Handeln. Werden diese verschiedenen disziplinären Sprachen über technische Artefakte zu einem gemeinsamen Verständnis von Technik zusammengeführt, können integrative Perspektiven auf die Beforschung und Entwicklung entstehen, um neue Applikationen passförmig in den jeweiligen sozio-kulturellen Kontexten zu implementieren.
Literatur
Ametowobla, Dzifa (2020): Die Plattformarchitektur als Strukturmuster: Ein Plattformbegriff fu r die soziologische Debatte. In: SSOAR.
Colombo, S.; Montagna, F.; Cascini, G.; Palazzolo, V. F. (2022): Digital Artefacts and The Role of Digital Affordance. In: Proc. Des. Soc. 2, S. 11–20. DOI: 10.1017/pds.2022.2.
DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: https://www.dwds.de/wb/Artefakt (Download: 27.4.24)
Froschauer, Ulrike; Lueger, Manfred (2020): Materiale Organisierung der Gesellschaft : Artefaktanalyse und interpretative Organisationsforschung. 1. Auflage. Weinheim Basel: Beltz JuventaContent-Select (Standards standardisierter und nichtstandardisierter Sozialforschung). Online verfügbar unter https://content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783779955559.
Latour, Bruno. (2005): Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford: Oxford University Press, Incorporated (Clarendon Lectures in Management Studies). Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/univie/detail.action?docID=422646.
Lueger, Manfred; Froschauer, Ulrike (2018): Artefaktanalyse. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Vicari, Stefania; Kirby, Daniel (2023): Digital platforms as socio-cultural artifacts: developing digital methods for cultural research. In: Information, Communication & Society 26 (9), S. 1733–1755. DOI: 10.1080/1369118X.2022.2027498.
Tueg, Florian (2014): Technik und technisches Artefakt. Dissertation. Technische Universität Kaiserslautern, Stuttgart.
[1] MAIJA wird gefördert durch das KIRAS Sicherheitsforschungsprogramm unter der Programmverantwortung der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) unter der Antragsnummer 49450173: https://www.kiras.at/gefoerderte-projekte/detail/mobile-artificial-intelligence-justice-assistant-maija/ (30.05.2024)
[2] Das Projekt wurde im Sicherheitsforschungs-Förderprogramm KIRAS des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus unter der Nummer FO999886377 finanziert: https://www.kiras.at/gefoerderte-projekte/detail/digdok-digitalisierung-analoger-gefangenenbezogener-dokumentationsprozesse-im-strafvollzug/ (30.05.2024)
[3] DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: https://www.dwds.de/wb/Artefakt (Download: 27.4.24)
[4] Colombo et al. 2022, S. 13.
[5] siehe u.a. Tueg 2014, S. 98–99.
[6] Lueger und Froschauer 2018.
[7] Vicari und Kirby 2023
[8] Ametowobla 2020
[9] Lueger und Froschauer 2018
[10] Latour 2005.
[11] Lueger und Froschauer 2018, S. 53–58.
[12] Lueger und Froschauer 2018.