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Im Knast mit ungewisser Aussicht

Artikel / Die Zeit / 

Der Blick ist stumpf, der Körper schwer. Der Mittdreißiger aus dem südlichen Österreich ist nicht das, was man sich unter einem gemeingefährlichen Schwerverbrecher vorstellt. Mit eingesunkenen Schultern sitzt er im Besucherzimmer der Justizanstalt Wien-Mittersteig. Seine Nacht war schlaflos, seine Psychopharmaka sind hoch dosiert, die Gedanken wollen nicht klar werden. Warum er hier im Bau sitzt? Er erzählt von einem Wirtshausstreit, der eskaliert sein muss, und von der Polizei, gegen die er sich gewehrt habe. Unterm Strich, so viel ist klar, hat er zehn Monate unbedingt aufgebrummt bekommen. Die hatte er zwar schon vor Jahren abgesessen, doch ein Ende seiner Zeit hinter Gittern ist nicht in Sicht.

So geht es mehr als zehn Prozent aller Insassen in Österreichs Gefängnissen: Sie bleiben in Haft, obwohl ihre Strafe getilgt ist. Denn wer als geistig abnormer Rechtsbrecher gilt, der wird auf unbestimmte Zeit "verwahrt", wie der Justizterminus lautet.

Als der Maßnahmenvollzug im Jahr 1975 eingeführt wurde, stand ein humanistischer Gedanken dahinter: Eine Haftstrafe bewirkt bei psychisch kranken Tätern wenig, sie brauchen Behandlung.

Heute ist der Maßnahmenvollzug eine Praxis des österreichischen Rechtsstaats, in der man den Rechtsstaat mit der Lupe suchen muss. Zweimal wurde die Republik vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seit 2015 deshalb verurteilt. Regelmäßig schlagen Volksanwaltschaft und Rechnungshof Alarm, selbst im Justizministerium gibt es fast niemanden, der das System verteidigen will. Die Kritik reicht von inhumanen Haftbedingungen über mangelndes Therapieangebot und unverhältnismäßige Haftdauer bis zum fehlenden Unterschied zur normalen Strafhaft. Gutachten sind schlecht, Nachsorgeeinrichtungen fehlen, für Jugendliche ist das System ohnehin inadäquat.

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