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Opferschutz in Österreich 2025 – Mit Rückschritten in die Zukunft!

Im Februar vergangenen Jahres habe ich in meinem Blogpost zum Gewaltschutz in Österreich davon geschrieben, dass die Grundstrukturen des Gewaltschutzes trotz mancher Lücken durchaus vorzeigbar sind. Nach den Ereignissen der ersten 10 Tage des neuen Jahres scheint es mir notwendig, dieses Urteil weiter einzuschränken. Anlass dafür sind zwei Fälle von Gewalt, die insbesondere in der österreichischen Rechtsprechung einen Aufholbedarf beim Thema Opferschutz erkennen lässt. Der erste Fall betrifft, wie die Tageszeitung „Der Standard“ und „Orf.at“ berichten[1] eine Frau in Wien, die von ihrem Mann mehrfach geschlagen und misshandelt wurde. Ausreichend problematisch an diesem Fall wäre nun schon, dass der erste Versuch der Frau sich Hilfe und Schutz zu verschaffen, von Polizist:innen der Polizeidienststelle Liesing damit beantwortet wird, dass das Schlagen mit der flachen Hand strafrechtlich nicht als Gewalt gewertet wird und man der Frau daher nicht helfen könnte. Diese Argumentation ist dabei nicht nur strafrechtlich zweifelhaft, denn auch eine Ohrfeige kann zu einer Verletzung führen (abgesehen davon kann eine Ohrfeige als womöglich als Versuch der Körperverletzung gewertet werden). Schwerer wiegt, dass dieses Verhalten seitens der Polizist:innen den Kerngedanken des Gewaltschutzrechtes negiert. Sinn und Zweck des Gewalt- und Opferschutzes ist und muss in erster Linie schließlich das Verhindern von Verletzungen sein. Von Glück im Unglück kann man in diesem Fall dann nur deshalb sprechen, weil die betroffene Frau trotz dieser Missachtung ihrer Situation nicht aufgegeben hat, sondern nach Anraten des Frauennotrufs noch eine weitere Polizeidienststelle aufgesucht hat, wo ihr schließlich, wie gesetzlich auch vorgesehen, geholfen wurde. In vielen anderen Fällen hätten, wie wir auch aus unserer eigenen Forschung wissen, Opfer nach einer solcher Reaktion seitens der Polizei erstmal eher aufgegeben. Einen noch schwereren Rückschlag für den Opferschutz stellt allerdings der Beschluss, genauer die Beschlussbegründung, durch das Bezirksgericht dar, welches den Antrag auf eine einstweilige Verfügung durch die betroffene Frau abgelehnt hatte. Gemäß den angeführten Presseberichten, die sich auf die Aussagen des Opfers stützen, habe die zuständige Richterin den Antrag abgewiesen, weil das Opfer nicht zweifelsfrei nachweisen konnte, dass es sich die Verletzungen nicht selbst zugefügt habe. Ohne die Details der Verhandlung zu kennen, sind es solche Aussagen, und nicht das Abweisen des Antrags per se, die sich relativ nahtlos in jenes negative Bild der Rechtsprechung zu häuslicher Gewalt einfügen, welches ich auch in meiner Forschung zur Situation von Opferzeuginnen im Strafverfahren dokumentiert habe[2]. Darin zeige ich unter anderem, dass das Erbringen eines zweifelsfreien Beweises für Opferzeuginnen aufgrund der Eigenlogik der Rechtsprechung und Strafverfahren nur sehr schwer möglich ist. Einerseits aufgrund dessen, was Wolff und Müller (1997)[3] als kompetente Skepsis beschreiben, andererseits weil gerade Strafverfahren zu häuslicher Gewalt hochgradig vergeschlechtliche soziale Settings sind.  Um die Situation zu verbessern, könnte zumindest im Zivilverfahren zur einstweiligen Verfügung zum Schutz vor Gewalt die Möglichkeit der Beweislastumkehr, wie sie etwa im Gleichbehandlungsgesetz bei Diskriminierungsfragen vorgesehen ist, erwogen werden. In Folge müssten Opfer häuslicher Gewalt bspw. nur den grundlegenden Tatbestand für die Genehmigung einer einstweiligen Verfügung, etwa dass sie Gewalt ausgesetzt waren, darlegen (also bspw. eine Verletzung vorweisen), und im Gegenzug die (vermeintliche) Täter beweisen, dass nicht sie diese Verletzung zugefügt haben.

 

Der zweite Fall, der Zweifel an der österreichischen Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Schutz weiblicher Opfer vor Gewalt weckt, betrifft den Freispruch eines zum Tatzeitpunkt 15-jährigen Burschen, der beschuldigt wurde, eine 12-Jährige vergewaltigt zu haben, indem er sie zu Oralsex gezwungen habe. Wiederum ohne genaue Details zu kennen, erschreckt dieser Fall weniger wegen des Freispruches als wegen dessen Begründung. So kommt der Schöffensenat, laut dem Bericht in „Der Standard“, zu dem Schluss, dass keine Vergewaltigung vorliege, weil der Beschuldigte den Kopf des Mädchens „nur leicht“ in Richtung seiner Genitalien gedrückt haben soll, sowie, durch sein Bitten und Betteln, dass Mädchen von ihrem „Nein“ zum Oralverkehr abgebracht haben soll. Nämlich, so der vorsitzende Richter, „passiert [es] oft, dass man erst 'Nein' sagt und sich dann durch Zärtlichkeiten überzeugen lässt“. Mag eine solche Annahme, wohlgemerkt im äußersten Fall, eventuell noch zwischen zwei Erwachsenen vertretbar sein, scheint mir diese Feststellung für den sexuellen Verkehr zwischen Kindern, denen es (welch Wunder!), wie das Gericht auch selbst erkennt, an sexueller Reife mangelt, fatal und sendet ein verheerendes Signal. Was die beiden Kinder, und bestimmt auch andere Jugendliche in deren sozialem Umfeld vermittelt bekommen ist, dass „Nein“ scheinbar eben doch nicht „nein“ heißt, wenn man die andere Person überzeugen kann, solange der Druck nur „leicht“ ist und man „bittet und bettelt“ – was genau das auch immer bedeutet. Dass das Verhalten des Mädchens nach der Tat ebenfalls nicht ins Bild des perfekten Opfers passt, scheinbar gab es weiteren Austausch von explizitem Material, wird vom Gericht außerdem als Bestätigung gewertet, dass das Kind nicht traumatisiert sei. Derartiges Verhalten wird, wie in der Opferforschung zu häuslicher Gewalt zur Genüge belegt, etwa wenn Frauen den prügelnden Partner wieder in die Wohnung lassen, Opfern immer wieder vorgehalten. Grund dafür ist zumeist, dass die komplexen psychologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren, die zu einem solchen Verhalten beitragen, nicht beachtet oder nicht verstanden werden. Negativ abgerundet wird der Fall dadurch, dass das Gericht in seiner Urteilsbegründung damit auch der Argumentation des Strafverteidigers des Beschuldigten folgt. Nicht nur, dass dieser die Bezeichnung „Scheiß-Nutte“, wie der Beschuldigte das Mädchen in Chats beschimpfte, nicht für frauenverachtend hält, sondern darüber hinaus sogar noch meint, dass „[n]ur weil das Mädchen 'Nein' gesagt hat, ist das noch keine Vergewaltigung“. Dazu fällt einem dann leider auch nichts mehr ein…Sexismus in ältester Manier!


[1] https://www.derstandard.at/story/3000000252033/frau-in-wien-geschlagen-opfer-offenbar-von-polizei-abgewiesen.

https://wien.orf.at/stories/3288199/

[2] https://utheses.univie.ac.at/detail/46865

[3] Wolff, S., & Müller, H. (1997). Kompetente Skepsis: Eine konversationsanalytische Untersuchung Zur Glaubwürdigkeit in Strafverfahren. Opladen: Westdeutscher Verlag.