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Reden in der Krise und über die Krise

Die rasante Verbreitung des Corona Virus hat auch eine Pandemie der literarischen Produktion erzeugt. Krisenkolumnen jeglicher Couleur demonstrieren, wie sich die Aufregung der Köpfe bemächtigt, moralische Erregung um sich greift und in den Laboren und Denkstuben wächst ungeahnte zeitdiagnostische Expertise nebst entsprechenden Ratschlägen und Warnungen heran. 

Zwar fehlt es nach wie vor an einer gesicherten Datenbasis, die eine seriöse Einschätzung von Ausmaß, Dynamik und Entwicklung der Pandemie ermöglichen würde, aber es herrscht Konsens darüber, dass es schlimm ist und noch schlimmer werden könnte. Es regiert der Superlativ. Mediziner werden zu Experten für gesellschaftliche Fragen, Sozialwissenschaftler interpretieren medizinische Befunde und Juristen und Ökonomen, auch unter Normalbedingungen ohnehin Experten für Alles, erheben mahnend ihre Stimmen. Gewarnt wird vor vielfältigen Folgen, gefordert werden Gehorsam und Vorsicht und manch optimistisch Gestimmte sichten gar zarte Blüten des ganz anderen und neuen Lebens – wie Phönix aus der Asche werden wir aus der Krise hervorgehen, vielleicht. Die Politik variiert täglich die Dosis von Schreckens- und Hoffnungsmeldungen, um die Stimmung im Lot zwischen Anspannung und Erleichterung zu halten. Flattening the curve lautet das neue gesamtgesellschaftliche Projekt.

Handelt es sich hier um die Normalisierung des Ausnahmezustands oder doch eher um eine der wiederkehrenden Ausnahmen vom Normalzustand? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits häufen sich weitgehend widerstandslos akzeptierte Eingriffe und Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten in den entwickelten Gesellschaften des Westens, werden neue Disziplinierungsmaßnahmen auf der Basis schlampiger Gesetze verordnet, nutzen die üblichen Verdächtigen von Orban bis Trump unverblümt die Situation zur Immunisierung gegen demokratische Kritik. Spricht das nicht für die Deutung, dass es weiterhin schlafwanderlisch in Richtung postdemokratische Gesellschaften und autoritären Überwachungsstaat geht? Andererseits tritt derzeit im Scheinwerferlicht medialer Erregung nur das verstärkt zu Tage, was eben diese Gesellschaften und die globale Ordnung auszeichnet – eine extrem ungleiche Verteilung von Reichtum, Chancen und Sicherheit. Schaden erleiden die Armen, Alten, Randständigen, die Bewohner der diversen Peripherien, jene also, die auch sonst immer das bevorzugte Ausfallsgebiet gesellschaftlicher Verwerfungen sind. Wenn sich jetzt die besserwisserischen Angehörigen der schreibenden Klasse in grimmigem Realismus oder stellvertretendem Mitleid ergehen befeuert das meist nur folgenlose Kontroversen, die den Problemen analytisch nicht Herr werden. Sollte man vielleicht nicht einfach anerkennen, dass dort, wo ein halbwegs funktionierender Wohlfahrtsstaat überlebt hat, die vorhandenen Ressourcen hinreichen, um die medizinische, wirtschaftliche und soziale Versorgung der Bevölkerung halbwegs sicher zu stellen – auch wenn die Politik weitgehend im Blindflug vor sich hin stochert? Sollte man nicht zur Kenntnis nehmen, dass dank der im Binnenbereich verfügbaren zivilgesellschaftlichen Deckungsreserven an praktischer Vernunft und Solidarität einiges abzufedern ist? Gleichzeitig wird das Erregungspotential knapp, Klimakrise, Flüchtlingslager, Handels- und andere Kriege verblassen als drängende Probleme. Und sollte nicht der Blick in die Vergangenheit zeigen, dass Krisen kaum zu einschneidenden Veränderungen und Lerneffekten führen – ist etwa der globale Finanzsektor nach den Turbulenzen von 2007/2008 an die Kandare gelegt und politisch gezähmt worden? Sähe man mit ein wenig Distanz nicht auch, wie kurz die Aufmerksamkeitsspanne des kollektiven Bewusstseins ist, wie schnell dramatische Ereignisse der sozialen Amnesie zum Opfer fallen oder ihr Dasein in der Folklore des Feuilletons fristen? Das ist kein Votum für intellektuellen oder politischen Fatalismus. Eher die Aufforderung, das Allgemeine am derzeitig zu beobachtenden Besonderen zu sehen, und anzuerkennen, dass moderne Gesellschaften stabiler sind, als es der krisengetrübte Blick wahrhaben will und das ist sowohl eine gute wie eine schlechte Nachricht.